Claudine Metzger

Wovon träumen sie?

Häuser und Landschaften zwischen Zivilisation und Natur sind Ingmar Alges bevorzugten Motive. Sie bilden verlassene, einsame, bisweilen stumme Dispositionen und lassen Anflüge ambivalenter Stimmungen spürbar werden, deren Ausstrahlung melancholisch und romantisch, gleichzeitig auch distanziert und kühl sein kann. Das Haus in „höchst nr. 6“ (2005) präsentiert sich beispielsweise in einer Mischung aus Nüchternheit und idyllischer Idealisierung wie die Grossaufnahme in einem Immobilienkatalog. Wir alle kennen diesen Haustyp aus unserer eigenen Erfahrung. Es sind die Einfamilienhäuser, wie sie zu tausenden in den Siedlungsgebieten rund um grössere Städte entstehen und mittlerweile zusammenhängende, locker besiedelte Vorstädte bilden, welche langsam die Landschaft auffressen. Die Häuser sind die verwirklichten Wunschträume der individualisierten Wohlstandsgesellschaft, in welcher der Privatsphäre besonders grosser Wert beigemessen wird. Das Eigenheim erscheint dabei schon fast als Voraussetzung für optimale Entfaltung und grösstmöglichen Schutz des privaten Glücks. So verstecken sich die Häuser hinter hohen Hecken, die Fenster sind klein, die Rollläden heruntergelassen. Direkter Kontakt mit den Nachbarn scheint nicht erwünscht zu sein. Lieber holt man sich die grosse, weite Welt mit Hilfe der Satellitenschüssel ins Haus, welche gut sichtbar an der Frontfassade montiert ist. Die abweisende Ausstrahlung des Hauses kann zwar das warme Abendlicht, das der Szenerie einen Hauch von Romantik verleiht, nicht aufheben. Aber es transportiert die Träume, die mit dieser Form des Wohnens verbunden sind: die Möglichkeit der Selbstbestimmung, ohne auf andere Rücksicht nehmen zu müssen, die Abwesenheit von Alltagshektik.

Die Einsamkeit, welche die absolute Privatheit, die hermetische Abschottung gegen aussen zur Folge hat, wird im Bild „f5“ (2005) auf beinahe parodistische Art vor Augen geführt. Die Kombination des Einfamilienhauses hinter der palisadenartigen Hecke inmitten einer weiten Ebene mit einer weiblichen Figur hat etwas Surreales, das sich im erstaunten Innehalten der Figur spiegelt. Die einsame Lage des Hauses in der weitläufigen, flachen Landschaft entspricht überhaupt nicht den immer knapper werdenden realen räumlichen Verhältnissen in den Ballungsgebieten, in denen solche Häuser normalerweise stehen. So wird der topfebene Landstrich ohne jegliche Vegetation, an der das Auge haften könnte, in seiner Reizarmut zum ambivalenten Gefühlsraum. Einerseits macht er die Leere, Gleichförmigkeit und Fantasielosigkeit dieses „Wohntraums“ spürbar, andererseits ist die weite Ebene auch Symbol für die Freiheit, die mit dieser Art der Privatheit assoziiert wird.
Obwohl in keinem der beiden Bilder die Bewohner der Häuser zu sehen sind, führen sie wie in einem Film eine Ahnung von deren Leben vor Augen, indem sie unsere Imagination aktivieren. Man fragt sich, wie diese Menschen leben, welche Gewohnheiten sie pflegen, welche Ängste, Hoffnungen und Erwartungen sie haben.

Träumen sie vom Ausbrechen aus dem Alltagstrott, von der grossen Freiheit? Was machen sie in ihrer Freizeit? Verlassen sie manchmal ihr Haus, um sich mit Freunden zu treffen?
In Ingmar Alges Sicht auf unsere Gesellschaft scheint es kein Mittel gegen die Einsamkeit zu geben. Wie das Bild „montfort“ (2005) zeigt, ist auch die Bar, wo man sich normalerweise trifft, um bei Bier und Wein den Alltag für einige Stunden zu vergessen, menschenleer. Umsomehr sticht einem die Sauberkeit und Ordnung ins Auge. Getränkekarte, Aschenbecher und Bierdeckel stehen alle an ihrem Platz. Das Leder und das Holz der Sitzbänke sind frisch poliert, so dass sich sogar die Vorhänge darin spiegeln. Das gleissende Licht, welches durch das Fenster dringt, verhindert den Blick nach draussen.

Die unwirkliche Szenerie, welche „f4“ (2005) zeigt, erscheint auf den ersten Blick als prototypisches Bild des amerikanischen Freiheitstraumes: Ein riesiger Parkplatz, der wegen seiner Leere auch eine Autobahn sein könnte, zieht sich bis zum Horizont hin. Ohne Hindernis lässt er unseren Blick in die Unendlichkeit schweifen, und weckt den Wunsch zu verreisen – weit fort, in jenes erträumte irdische Paradies, wo das Wetter immer schön und das Leben unkompliziert ist. Doch diese Romantik ist nicht ungetrübt. Eine seltsame Atmosphäre liegt über der Szenerie. Warum ist der Parkplatz mitten am Tag vollständig leer? Hängt der unnatürlich grün schimmernde Streifen am Horizont vielleicht mit dieser unheimlichen Leere und Ruhe zusammen? Was sind das für merkwürdige Schilder, die nichts anzeigen? Ist das Gebäude am Horizont eine Tankstelle, eine Raststätte, eine Zollstation?

Obwohl realistisch gemalt, strahlen Ingmar Alges Bilder eine grosse Künstlichkeit aus. Sie äussert sich in ungewöhnlichen Perspektiven und im unnatürlichen Licht, das die Stimmung prägt, wie beispielsweise das grüne Leuchten in „f4“ oder die glühenden Konturen der Hecke in „höchst 6“. Die Bilder wirken dadurch gleichzeitig vertraut und fremd. Diese Ambivalenz resultiert aus Ingmar Alges Vorgehen bei der Vorbereitung der Bilder, deren Ausgangspunkt Fotografien sind, die der Künstler in seiner unmittelbaren Umgebung, den Vorstädten um Bregenz aufnimmt, wo der Künstler aufgewachsen ist und seit kurzem wieder lebt. Fesselt ein Haus, eine Landschaft seine Aufmerksamkeit, fotografiert er das Motiv oft mehrmals, um möglichst viele atmosphärisch unterschiedliche Bilder zur Verfügung zu haben. Die Fotografie übernimmt hier die Funktion der traditionellen Skizze und dient der Aneignung des Bildgegenstandes. Da eine Fotografie unmöglich genau die Stimmung wiedergeben kann, die sich der Künstler vorstellt, komponiert er die fotografische Vorlage für ein Gemälde am Computer. Manchmal stellt Ingmar Alge die Bilder sogar komplett neu zusammen. Er ersetzt beispielsweise den Himmel und verzerrt die Perspektive, dass die Landschaften beinahe ein 360-Grad-Panorama zeigen oder die Häuser voluminöser erscheinen als sie tatsächlich sein können. Auf diese Weise entstehen Situationen, die zwar natürlich wirken, die es aber in Wirklichkeit so nicht gibt.1

Der Realismus in den Bildern von Ingmar Alge zielt nicht auf die unvoreingenommene Darstellung der Wirklichkeit, sondern auf die Emotion, „auf das was hinter dem Horizont, hinter der Fassade liegt“.2 Das Medium der Malerei, in welchem die Oberflächen aus unzähligen übereinander gelegten, fein lasierten Farbschichten aufgebaut werden können, bietet ihm die Möglichkeit, solch vielschichtige Bild- und Gefühlsräume zu schaffen.
Durch die nur wenig veränderte Übertragung fotografischer Bilder von alltäglichen, unspektakulären Häusern und Landschaften in Malerei gelingt es Ingmar Alge, wenig beachtete, aber umso prägnantere Merkmale unserer Umgebung ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und damit auf charakteristische Verhaltensweisen unserer Gesellschaft hinzuweisen. Das Fertighaus hinter der Hecke und der Parkplatz in der weiten Landschaft werden zu Symbolen für die Einsamkeit und Freiheitssehnsucht des westlichen Menschen als Folge des wachsenden Wohlstandes und der damit verbundenen Individualisierung. Indem die Bilder keine Geschichten erzählen, sondern über feine Manipulationen und farbliche Intensivierungen die Wirklichkeit leicht übersteigern und dadurch die Vorstellungskraft wecken, sind sie gleichzeitig gesellschaftspolitische Statements wie auch Angebote für die Reflexion der eigenen Sehnsüchte und Träume.

© Claudine Metzger

In: Ingmar Alge, Entfernung, Museum zu Allerheiligen Schaffhausen,
Schaffhausen 2005


1   Ulrich Clewing, in: Ingmar Alge, Malerei 2001 02 03, herausgegeben vom Zweckverband der Dachauer
     Galerien und Museen, Dachau 2004, S. 15.
2   Gespräch mit Christa Häusler im Januar 2001, in: Ingmar Alge,
     herausgegeben von Kuckei+Kuckei, Berlin 2001, S. 7.