Dominik Wichmann
Das Gewicht von Blei und Daunenfedern
Es ist ein freistehendes Haus und es ist taghell. Die Fassade ist blass. An der Stirnseite zwei Garagentore, die beinahe geschlossen und nur ein wenig gekippt sind. Darüber zwei Fenster. Die Rollläden sind heruntergelassen. An der Längsseite des Hauses klemmt eine Satelliten-Schüssel, von der Seite sieht man die Planken der Balkonbalustrade. Fünf Stück insgesamt. Sie sind aus gedunkltem Holz, so wie der Dachfirst, so wie auch die Garagentore. Nur die Rollläden sind aus einem rötlichen Material, vermutlich ist es Plastik.Dort, wo das Haus steht, hat es geschneit. Wahrscheinlich erst in der vergangenen Nacht, denn der Boden scheint noch nicht kalt genug gewesen zu sein, damit der Schnee auch liegen bleibt: Im Gras des Gartens schmelzen die Flocken zu einem nassen Brei und auf der Einfahrt zu den zwei Garagen haben Autospuren den Asphalt schon wieder freigelegt.
Das Haus ist auf einem gemalten Bild zu sehen. Ein Foto dieses Bildes liegt nun schon seit Wochen auf meinem Schreibtisch. Man sagt mir, dass das Bild in einer Ortschaft unweit von Bregenz gemalt worden sei und dass es das abgebildete Haus tatsächlich gebe. Es stehe in einer kleinen Siedlung namens Höchst, ein paar Kilometer westlich von Bregenz. Es trüge die Hausnummer 1c. Warum aber schaue ich das Bild immer wieder an? Warum liegt das Bild, ausgerechnet dieses Bild, wochenlang in meiner Nähe?
Das Bild erinnert mich an meine Kindheit. An eine Szene mit Freunden meiner Eltern.
Es war nach dem Abendessen und bereits dunkel draußen. Wir machten einen Spaziergang durch unser Wohnviertel. Eine Gegend, in der es Häuser und Vorgärten gab, wie es sie auch in Höchst geben könnte. Die Freunde meiner Eltern hießen Manfred und Petra Faller und waren etwa so alt wie sie. Wie alt genau, vermochte ich damals nicht zu schätzen. Erwachsene waren entweder mittelalt wie meine Eltern oder richtig alt, wie die Großeltern. Dazwischen gab es eigentlich keine Abstufungen. Die Fallers waren also mittelalt und hatten einen Sohn und eine Tochter. Sie hießen Philipp und Ivonne. Der Junge war drei Jahre älter als die Tochter, mit beiden war ich gut befreundet. Wir gingen gemeinsam zur Schule, spielten nachmittags im Garten und unsere Eltern fuhren mit uns oft gemeinsam in den Urlaub nach Italien.
Das Viertel, in dem wir lebten, war erst nach dem Krieg entstanden. Die Straßen wurden im rechten Winkel zueinander angelegt und trugen Namen, die den Anwohnern zeigen sollten, dass das neue Deutschland anders zu sein habe: weltoffener, freundlicher, gebildeter. So waren alle Straßen nach französischen Schriftstellern, Philosophen und Komponisten benannt worden. Das wusste ich damals natürlich nicht und auch meine Eltern wussten es nicht. Nur Manfred Faller wusste es, denn er war Lehrer und gehörte zu jenen Vätern, die ihren Kindern und deren Freunden nach dem Abendessen gern eine Wissensfrage stellten. Wer die Antwort wusste, wurde belohnt und durfte zehn Minuten länger fernsehen.
Was ist schwerer: Ein Kilo Blei oder ein Kilo Daunenfedern?
Damals glaubte ich, der Vater meiner Freunde freue sich am meisten, wenn seine Kinder als einzige die Antwort auf seine Fragen wussten. Heute glaube ich das nicht mehr. Am liebsten war Manfred Faller, wenn seine Kinder die richtige Antwort nicht fanden. Denn dann konnte er sie mit seinem Spott züchtigen, weil er insgeheim hoffte, das sei ihnen ein Ansporn, einmal so werden zu wollen wie er: So gebildet und so klug, seine Kinder gedankenvoll erziehend. Jahrelang quälte er uns mit seinen dauernden Wissensfragen und einmal sagte Manfred, er wolle uns doch nur vorbereiten auf die große Welt da draußen, jenseits unserer Siedlung. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass er von einer Welt sprach, gegen die man sich nur mit Bildung wappnen könne.
Als meine Eltern, die Fallers und ich an diesem Abend durch unser Viertel gingen, da fehlten Philipp und Ivonne. Wahrscheinlich hatten die beiden Kinder wieder irgendetwas falsch gemacht oder nicht gewusst und durften ihre Eltern deshalb nicht begleiten. Denn nicht nur die Belohnung, sondern auch die Strafe, war in der Welt des Manfred Faller eine Voraussetzung zur Ambition.
Die Eltern waren unter sich und sprachen so offen über ihre Sorgen, dass ich bald Angst bekam. Ich ließ mich ein paar Schritte zurückfallen, weil ich hoffte, so nicht weiter aufzufallen und mehr zu erfahren von den Nöten der mir bislang unbesiegbar erscheinenden Erwachsenen. Die Angst machte mich schweigsam, doch wie bei einem schrecklichen Film, sah und hörte ich nicht nur weg, sondern wollte auch unbedingt wissen, was als nächstes passiert.
Die Fallers wohnten in einem Reihenhaus. Das Haus bestand aus einem Erdgeschoß, darüber ein erstes und zweites Stockwerk. Im Keller befand sich ein so genannter Hobbyraum, in dem die Waschmaschine und der Wäschetrockner der Familie stand. Ich fragte mich oft, warum ausgerechnet der Raum mit den Haushaltsgeräten Hobbyraum genannt wurde. Vielleicht deshalb, weil in diesem Zimmer auch noch das Fernsehgerät untergebracht war. Ursprünglich aus dem Grund, weil man den Raum abschließen konnte. So war es den Eltern möglich, abends beruhigt ins Kino gehen – die Fallers gingen immer sehr gern ins Kino – ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass die Kinder währenddessen heimlich fernsehen.
Einige Jahre später, Philipp und Ivonne waren schon etwas älter, hörte ihr Vater auf, die Tür zum Hobbyraum zu verschließen, wenn er und seine Frau abends das Haus verließen. Stattdessen lockerte er das Antennenkabel oder nahm die Batterien aus der Fernbedienung. Anschließend erlaubte er seinen anfangs völlig überraschten Kindern fernzusehen, zuvor müsse es ihnen allerdings gelingen, das Problem zu finden und zu lösen. Dann verließen Vater und Mutter das Haus. Ihren Kindern gelang es kein einziges Mal, den Fehler zu finden. Am nächsten Morgen machte sich Manfred Faller dann immer über seine Kinder lustig. Sie seien eben zu blöd, lachte er und sagte, dass man alles schaffe, wenn man es nur wolle.
Als wir vielleicht zehn Minuten an der frischen Luft gegangen waren, sagte Manfred Faller zu meinem Vater, er wisse nicht, wie es weitergehen solle.
„Warum“, fragte ihn mein Vater.
„Ich habe Schulden.“
„Wie viel ist es denn“, wollte mein Vater wissen und blickte dabei auf den feuchten Asphalt der Straße.
„Sie sind so hoch, dass bald alles vorbei ist.“ Die Stimme von Manfred war ganz leise. Ich ging jetzt etwa drei Meter hinter den Erwachsenen und es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Mann im Alter meines Vaters weinen hörte.
Er kenne das Datum, sagte Manfred.
„Welches Datum?“
„Der Tag, an dem mein ganzes Konstrukt aus Krediten und Leihgaben in sich zusammenfallen wird.“
Unvermittelt blieb mein Vater stehen: „Wann wird das sein?“
„Heute in drei Wochen.“ Wieder weinte Manfred und keiner der beiden Männer sagte mehr ein Wort. Schweigend gingen wir wieder weiter durch unser Viertel.
Ein starker, feuchter Wind blies mir in den Rücken. Die Fenster der umliegenden Häuser leuchteten in den Farben der vorgezogenen Gardinen: Rot und weiß und beige und blau und gelb und gelb. Von Zeit zu Zeit sah ich durch einen dünnen Spalt eine Familie essend an ihrem Wohnzimmertisch sitzen, oder beobachtete eine Frau beim Telefonieren. Wir gingen durch die Nacht, so zielstrebig, als würden wir auf Streife gehen und unser Viertel kontrollieren: Sehen, was der Nachbar macht, prüfen, ob am Waldrand alles in Ordnung ist, registrieren, falls ein Fremder sich hierher verirren sollte. Jeder von uns kannte den Weg, denn er war jedes Mal derselbe.
Was wird wohl in drei Wochen passieren? Was meint Manfred, wenn er sagt, dass bald alles vorbei sei? Was ist schwerer: ein Kilo Blei oder ein Kilo Daunenfedern? Ich lag in meinem Bett und konnte lange nicht einschlafen.
Was ich damals nicht wusste: Die Fallers hatten ein Haus gekauft. Ein freistehendes Haus. Ein Haus mit Balkon und Garten und einem kleinen, quadratischen Dach über dem Eingang. Ein Haus mit einem Keller, drei Stockwerken und einem Satteldach darüber. Ein Haus mit gelb getünchten Mauern, weiß lackierten Fensterrahmen, dunkelbraunen Dachbalken und einem kleinen Teich, in dessen Mitte ein abgestorbenes Seerosenblatt dümpelte.
Das Problem bestand darin, dass sich die Fallers das neue Haus geleistet hatten, ohne jedoch vorher ihr altes Reihenhaus verkauft zu haben. Jetzt besaßen sie nicht nur zwei Kinder und zwei Autos, sondern auch zwei Häuser. Allerdings wollte sich für das Reihenhaus kein Käufer finden. Nicht in der ersten Woche, und auch nicht in der zweiten. Bald mussten die Fallers ihr neues Haus bezahlen. Doch von welchem Geld? Noch immer konnte die Familie ihr Reihenhaus nicht verkaufen. Ein Kredit musste her, die Bank sprang ein. Monat um Monat verstrich. Und bald baten die Fallers um einen zweiten Kredit, denn die Zinsen des ersten mussten dringend getilgt werden. Die Zeit verging, ohne dass jemand das Reihenhaus der Fallers kaufen mochte. Manfred Faller wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die Familie bankrott sein würde.
Das neue Haus der Fallers war dem Haus aus Höchst, dessen Bild nun schon seit Wochen auf meinem Schreibtisch liegt, sehr ähnlich. Immer wieder sehe ich es mir an, denn ich bin gebeten worden, über die Bewohner solcher Häuser zu schreiben. In Bregenz und Umgebung, sagt man mir, gebe es viele dieser Bauten. Es heißt, sie verunzierten die ganze Gegend, das Rheintal, das Unterland, und es sei doch unerklärlich, wie man in solchen Häusern leben könne ohne krank zu werden.
Das sagt sich so leicht.
Am nächsten Mittag fahre ich mit dem Auto von München nach Bregenz. Es ist der Tag vor Heiligabend, es hat geschneit und die Luft ist kalt. Die Dämmerung ist bereits angebrochen, als ich Bregenz erreiche und wenige Minuten später auf der Rheinstraße weiter in Richtung Höchst fahre. Ich passiere die Ortschaft Hard, ein paar Autohäuser, einen Imbiss namens „Ankara“ und mehrere, provisorisch eingezäunte Areale, auf denen frisch geschlagene Tannen als Christbäume verkauft werden. Ein Kreisverkehr, ein Supermarkt, wieder ein Kreisverkehr. Es dauert nicht lange, und ich habe mich verirrt.
Nach Höchst wollte ich, nach Höchst in den Ortsteil Unterdorf. Zum Haus mit der Nummer 1c. Wollte dort läuten und die Bewohner fragen, ob sie krank geworden sind in ihrem Einfamilien-Bau. Aber ich finde das Haus nicht und lasse mich stattdessen im Feierabendverkehr des 23. Dezembers treiben.
Lange Zeit verstand ich nicht, was die Fallers damals bewegt haben mochte, ihr altes Haus gegen ein neues Haus tauschen zu wollen. Beide lagen doch nur wenige Kilometer voneinander entfernt und waren annähernd gleich groß. In absehbarer Zeit hätten Philipp und Ivonne das Haus ihrer Eltern ohnehin verlassen. Und dann? Das neue Haus wäre doch dann viel zu groß gewesen, eine ganze Etage wäre leer gestanden.
„Warum überhaupt so ein Haus“, fragte meine Mutter an einem der Tage, nachdem ich Manfred weinen gehört hatte, seine Frau Petra am Telefon. Meine Mutter schwieg und hörte Petra zu. Sie wechselte den Hörer vom linken an das rechte Ohr und sagte lange nichts. Das Ganze dauerte vielleicht fünf Minuten, dann war das Gespräch zu Ende. Ich fragte meine Mutter, was Petra ihr geantwortet habe.
„Petra sagt, sie wolle endlich in einem Haus leben, um das man herumgehen könne.“
„Wie herumgehen?“, fragte ich.
Meine Mutter zuckte mit den Schultern. „Kein Reihenhaus mehr, verstehst Du?“
Ich verstand gar nichts.
Der Verkehr in Höchst nimmt langsam ab. Es ist kurz nach sieben, die Geschäfte haben längst geschlossen. Die meisten Autos biegen in die Seitenstraßen ein und schlüpfen durch geöffnete Garagentore in die Häuser. Die Tore schließen sich wie von Zauberhand und das wetterfeste Außenlicht erlischt. Eine dieser Straßen trägt den Namen „Paradies“. Auch ich biege ab und fahre langsam durch die Siedlung.
Vor einem gelben Haus mit wenig Fenstern parke ich das Auto. Das Haus ist hell erleuchtet: scheinbar endlos schlingen sich Girlanden um den First, die Fensterrahmen und das Balkongeländer. Es ist Weihnachtszeit und da will man Licht ins Dunkel bringen. Es blinkt an allen Ecken und Geraden und weil auch das nicht reicht, sind die vielen kleinen Häuser rund um das große Haus noch zusätzlich entsprechend dekoriert: auf dem Mülltonnenhaus leuchtet ein rosa Lampion, vom Vogelhaus hängen blinkende Christsterne herab und wenige Meter weiter versucht ein gartenzwerggroßer Nikolaus, den Geräteschuppen zu erklimmen.
„Suchen Sie nach etwas Bestimmten“, fragt mich ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit ruhiger Stimme. Unter seiner feinmaschig gestrickten Sportmütze spitzen ein paar graumelierte Haare hervor. Sein Schnauzbart ist akkurat gestutzt. Er trägt einen roten Anorak und blaue Jeans. Seine Füße stecken in grauen Wanderschuhen.
„Ich sehe sie hier schon eine ganze Weile stehen und da dachte ich mir, ich frag’ mal, ob ich Ihnen helfen kann“, erklärt der Mann und wirft dabei einen kurzen Blick auf mein Autokennzeichen.
„Danke, sehr aufmerksam von Ihnen“, antworte ich ihm.
„Sie sind nicht aus dieser Gegend?“
„Stimmt. Ich wollte mir nur die Häuser hier ansehen, vor allem das hier.“ Ich deute auf das Christbaum-Haus.
„Die sind nicht da“, sagt der Mann: „Die verbringen Weihnachten bei ihren Kindern in Innsbruck.“
Plötzlich ist es mir unangenehm, hier zu stehen. Ich kenne die Menschen nicht und sie kennen mich auch nicht. Ich fühle mich wie ein Eindringling in eine fremde Welt, in ihre Welt. Ich blicke auf mich selbst, das Auto, das Haus und den Mann im seinem roten Anorak. Ich komme mir vor wie in einer Szene von „Aktenzeichen XY ungelöst“.
Ein junger Mann fährt langsam durch eine ihm offensichtlich fremde Wohngegend. Er kundschaftet die Gewohnheiten der Bewohner aus. Ein Nachbar wird sich später gegenüber der Polizei daran erinnern, mit dem Fremden ein paar belanglose Sätze gewechselt zu haben. Eine Woche später quillt immer mehr Post aus dem Briefkasten der Nachbarn. Die Polizei wird verständigt und will die Tür aufbrechen. Doch die Tür, dunkles Furnier mit einem vergitterten, trübem Glas in der Mitte, ist nur angelehnt. Die Polizisten treten ein. Der Windfang ist verwüstet. Schubladen wurden willkürlich aus der schwarz gelackten Kommode mit den herzförmigen, altrosafarbenen Griffen gerissen. Der rechteckige Spiegel neben der Garderobe ist zerbrochen. Im Treppenhaus, dessen Wände aus dicken, viereckigen Glassteinen gemauert sind, finden die Ermittler Blutspuren. Sie befürchten das Schlimmste.
Die rechte Hand an ihrer Schusswaffe, tasten sie sich mit ihrer Linken langsam an dem schmiedeeisernen Handlauf in den Keller hinab. Sie müssen vorsichtig sein, denn auf dem gefliesten Boden hört man ihre Schritte. An der Wand hängt ein Kalender mit Motiven aus der Bodensee-Region, daneben ein weißes Tuch mit dem rot eingestickten Spruch: „Vier war’n geladen, sechs sind gekommen; gieß’ Wasser zur Suppe, heiß’ alle willkommen.“
Im Keller angelangt, öffnen die Polizeibeamten eine Tür nach der anderen. Es ist dunkel und nur die Lichtkegel ihrer Taschenlampen zeigen einen großen Heizungskessel, gehüllt in gelbe Dämmwolle. Plötzlich erschrickt einer der beiden. Doch Entwarnung: es war nur eine alemannische Holzmaske, welche die Täter achtlos auf den Boden geworfen haben. Im Hobbyraum lehnt sich einer der Ermittler versehentlich gegen den Lichtschalter. Auf einmal wird es hell. Im fahlen Licht der Neonröhre erblicken sie zwei erschlagene Leichen: Der Hausbesitzer und seine Frau. Der sandfarbene Webteppich ist mit Blut getränkt.
Ich frage mich: Warum fühlst Du Dich als Eindringling? Warum unterstelle ich dem Mann im roten Anorak, dass er mich als eine Bedrohung empfindet? Warum glaube ich, dass er mit seiner Freundlichkeit nur seine Neugier zu kaschieren versucht? Was ist schwerer: ein Kilo Blei oder ein Kilo Daunenfedern?
Wahrscheinlich tue ich dem Mann Unrecht. Wahrscheinlich liegt es nicht an ihm, sondern an den Häusern, die hier stehen. Sie benehmen sich, als gäbe es draußen keine Wärme. Ihre Fenster sind Schießscharten, die Rollläden gleichen heruntergelassenen Gittern und die Garagen verschlossenen Burgtoren. „Bleib weg“, rufen die Häuser jedem Fremden entgegen, und um ihn zu verwirren, gleicht bis auf das Namensschild ein Haus dem anderen. Charakterlose Fassaden mit einer Hecke oder einem Jägerzaun drum herum. Gelebt wird im Verborgenen, denn die Welt da draußen, die verheißt nichts Gutes. Nur der Besitz der eigenen vier Wände bietet Schutz und Sicherheit. Und Anerkennung.
Traute Heime, wohin man blickt. Ich stelle mir vor, die Häuser von Höchst wären alle ganz klein, so klein wie die Häuser in den Landschaften der Modelleisenbahnbauer. Ich würde das Dach eines der Häuser vorsichtig abnehmen und wäre ganz still dabei, so dass die Bewohner nicht merken, wie ich sie mit meinem großen Auge beobachte. Ich würde sehen, wie eines der Kinder in seinem Zimmer im ersten Stock auf der Blockflöte ein Weihnachtslied übt; ich würde sehen, wie das andere Kind gemeinsam mit der Mutter unterdessen den Weihnachtsbaum schmückt; ich würde die Einrichtung der Familie sehen, die überall verstreuten Mitbringsel von den vielen Reisen in die ganze Welt; die Muscheln am Rand der Badewanne, der künstliche Efeu im Keller, das Katzenklo im Hobbyraum; ich würde riechen, dass es heute Abend Lasagne zum Essen gibt, ich würde hören, wie die Mutter zu ihrem Kind sagt, dass das Hackfleisch vom Biobauern in Lustenau sei. Und ich würde den Vater sehen, der auf der Wohnzimmercouch sitzt, sich „Aktenzeichen XY ungelöst“ ansieht, und zu seiner Frau sagt, es werde allmählich Zeit für eine gute Alarmanlage, im Rheinpark von St. Margarethen gäbe es da gerade ein sehr gutes Angebot.
Der deutsche Künstler Gregor Schneider hat auf der vorletzten Biennale in Venedig für eine kleine Sensation gesorgt. Schneider baute das Innenleben seines Elternhauses im Stadtteil Rheydt in Mönchengladbach ab – und in Venedig wieder auf. Und weil man in Italien keine anständige deutsche Raufasertapete bekommt, brachte Schneider einfach alles mit. „Sogar die Schrauben und das Wasser für die Pfütze im Keller“, sagte Schneider in einem Interview. Und er sagte noch etwas: „Das ständige Arbeiten an dem Haus ist kein Renovieren. Die Arbeit besteht in sich selber. Sobald ich einen Raum fertig habe, beginne ich an anderer Stelle neu. Die Arbeit macht vergessen. Der Leerlauf von Arbeit lässt neue Arbeit entstehen. Das ist dann der Moment, in dem ich einen neuen Raum im Raum baue.“
Ich fahre zurück nach Hause. Wieder vorbei an Autohäusern, vor denen Fahnen wehen, so als handelte es sich um die Konsulate fremder Marken und Firmen. Vorbei an Häusern, die fast alle gleich aussehen. Wenn man so will: Räume im Raum. Bollwerke gegen die Angst, Mauern,die vor der Ungewissheit des Lebens Schutz bieten sollen. Gebaute
Lebensversicherungen.
Ich denke zurück an die Fallers und wie sie dann doch endlich ihr Reihenhaus verkaufen konnten und voller Freude in ihr neues Domizil zogen. Wie sie jeden freien Tag in ihrem Garten arbeiteten, zu dem toten Seerosenblatt einen ins Wasser pinkelnden David stellten und große, spiegelnde Kugeln in die Blumenbeete steckten, damit die Vögel fernblieben. Von der Terrasse bis zum Ufer des Teichs legte Manfred viereckige Platten aus Eternit ins Gras, damit man sich nicht die Schuhe schmutzig mache.
Bald schon zogen auch wir aus unserer Wohnung aus und mieteten eine Doppelhaushälfte, nur wenige hundert Meter weiter. Mehr war nicht drin, sagten meine Eltern, aber durften sich jetzt endlich auch über all das freuen, wovon die Fallers schon die ganze Zeit schwärmten, wann immer sie uns besuchten: So ein Haus sei halt was Eigenes, und ausserdem könne man eben drum herum gehen. Weil wir aber, wie gesagt, in einer Doppelhaushälfte wohnten, klappte das mit dem Drumherumgehen nicht so gut.
Ich hasste unser neues Haus von Anfang an. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass meine Mutter meinen Vater in den folgenden Jahren immer häufiger dabei ertappte, wie er sie mit anderen Frauen betrog. Irgendwann, es war ein Freitagabend, packte sie ihm seine Koffer, stellte sie vor die Tür und ließ das Schloss auswechseln. Sie stopfte ein rot- kariertes Geschirrtuch in die Klingel und steckte das Telefon aus. Damit wir gut schlafen können, sagte sie zu mir. Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu.
Ein paar Monate später mussten meine Mutter und ich in eine Zwei-Zimmer-Wohnung umziehen. Der Kontakt zu den Fallers riss ab.
© Dominik Wichmann, geboren1971, lebt in München
In: Ingmar Alge, Malerei 2001 02 03,
Neue Galerie Dachau, Dachau 2004