Friedemann Malsch
Ingmar Alge ist ein Künstler, der in bemerkenswerter Weise seiner Region verbunden ist. In Höchst, an der Grenze des Vorarlbergs zum Kanton St. Gallen, geboren und aufgewachsen, lebt und arbeitet er dort nach wie vor. Über die regionalen Grenzen hinaus bekannt wurde er vor einigen Jahren mit einer Reihe von Gemälden, die Einfamilienhäuser aus seiner unmittelbaren Umgebung und aus dem Vorarlberg zeigen. Einige dieser Gemälde sind auch in dieser Ausstellung zu sehen. Diese Gemälde zeigen den Typ Wohnhaus, wie er sich nach dem 2. Weltkrieg in Europa herausgebildet hat: Typologisch stark normiert, charakterisiert durch geringen gestalterischen Aufwand und geprägt von den konstruktiven und ausführungstechnischen Anforderungen, die auch im Eigenbau nach Feierabend realisierbar sind. Häuser, die jenen den Traum vom eigenen Heim ermöglichen, deren Einkommen begrenzt ist. In der Regel prägen solche Häuser das Erscheinungsbild ganzer Siedlungen, die im Zuge des wachsenden Wohlstands der Nachkriegszeit in neu ausgewiesenen Bauzonen entstanden, und die nicht nur bauästhetisch sondern auch sozial von einer frappierenden Homogenität sind. Es sind die berühmten Vororte ohne grosse Infrastruktur, die Zonen der "grünen Witwen" der unteren Mittelschichten, der Handwerker, Vertreter, Arbeiterschaften, auch der Lehrer und anderer öffentlicher Angestellter.
An diesen Gemälden Alges wird immer wieder die Trostlosigkeit und Ausdruckslehre der Häuser hervorgehoben. In der Tat wirken diese Häuser merkwürdig unkörperlich, unsinnlich, fade, zugleich aber auch abweisend, in sich gekehrt und "verschlafen". Vor allem aber sind die eines: Gnadenlos alltäglich. Sie sind von einer Alltäglichkeit, die uns, wenn wir ihr wie hier in einer Kunstausstellung ausgesetzt sind, fast physische Schmerzen bereitet. Der Fluchtreflex, der Drang zum Wegschauen ist gross, und dennoch schauen wir hin, angezogen von dieser unglaublichen Leere, auf der verzweifelten Suche nach einem Stück Leben in ihnen, nach dem, was wir in Gemälden stets suchen: Drama und Schönheit. Erhabenheit, wie dies früher hiess, beinhaltet beide Elemente in all ihren Schattierungen, auch die Schönheit des Hässlichen, wie schon im 19. Jahrhundert erkannt wurde. Und auch das Drama muss nicht mit Schrecken verbunden sein wie in den griechischen Tragödien, es kann auch allein der Erzählbogen innerhalb einer noch so kitschigen Motivik sein.
Ingmar Alge zeigt uns dies alles nicht. Er zeigt uns vielmehr eine Wirklichkeit, mit und in der sehr viele von uns täglich leben. Er zeigt uns den Alltag. Dies ist auch in seinen neueren Gemälden so, auch wenn sie auf den ersten Blick erträglicher wirken. Sie wirken so, weil Menschen in ihnen auftauchen. Das tröstet sofort. Doch Vorsicht ist angezeigt: Auch in den neuen Bildserien dominiert eine Atmosphäre der Verlassenheit, der Isolation und Vereinzelung.
Christian Roellin hat mit seiner Auswahl von 12 Gemälden und mit ihrer Hängung in den Räumen seiner Galerie einen Parcours inszeniert. Der Besucher wird beim Eintreten in die Galerie mit dem Gemälde des Musik hörenden jungen Mannes empfangen, ein Selbstbildnis Alges. Den Rücken dem Betrachter zugewendet, sitzt der Mann auf dem Boden, die Arme um die Beine geschlungen, und hört einem Radio-CD-Player zu. Ob die Musik aus der Konserve kommt oder über den Äther, ist nicht auszumachen. Man denkt unwillkürlich an die Aktion von Joseph Beuys vom Anfang der 70er Jahre, als er den Bildschirm eines Fernsehers mit Filz bedeckte und anschliessend stundenlang auf dieses "Programm" starrte. Bei Alge wie bei Beuys scheint der Mensch auf besondere Weise über die Medien die Verbindung zur Welt halten zu wollen. Beuys suchte allerdings eine höhere Welt, Alge dagegen sucht die Welt hier bei uns. Das wird beim weiteren Gang durch die Galerie deutlich. Links an der langen Wand hängen vier Gemälde aus der Häuser-Serie. Drei dieser Häuser verstecken sich demonstrativ hinter hochgewachsenen Hecken aus Buchsbaum oder Lebensbaum. Gegenüber zwei Gemälde aus der "Costa Verde"-Serie des vergangenen Jahres: Nachtszenen von bedrückender Absurdität. Ein junges Mädchen in einer Übergangssituation zwischen Strasse und öffentlicher Parkanlage. Eigentlich sollte ein solches Motiv das Herz erfreuen, sind Parks doch dazu angelegt, dass sie den Menschen Freude und Erholung bieten. Hier ist der Effekt ein anderer, etwas Unheimliches liegt in der Luft. Auch das daneben hängende, kleinere Bild strahlt diese Absurdität aus: Eine Strassenlaterne beleuchtet eine kleine Strassenkreuzung, die vollkommen dysfunktional ist. Die Laterne steht in ihrer Mitte, und nur zwei Arme der Kreuzung sind tatsächlich so etwas wie gefasste Strassen, die beiden anderen Arme verlieren sich undefiniert in der Dunkelheit. Ein Memento mori für die Schwierigkeit der Menschen, sich zu begegnen? Dann das Bild "Beton", eine Übergangszone zwischen Gebäude und Aussenraum. Fast könnte man auch meinen, man wäre in einer American Bar, und wir sind keine Schelme, wenn wir hier an Edward Hopper denken. Ingmar Alge bezieht sich selbst ausdrücklich auf diesem Maler, von dem er meint, er habe bereits in den 30er und 40er Jahren eine mobile us-amerikanische Gesellschaft beschrieben, die in Europa erst jetzt Wirklichkeit zu werden beginnt. Läuft deshalb im letzten Bild des Raumes die Frau im roten Kapuzenpullover in die Dunkelheit der Nacht davon, selbst mit einer Taschenlampe bewehrt, aber vom Blitzlicht aus dem Dunkel geholt? Wohin läuft sie? Nach Hause, in den Wald, ins Nichts, oder doch nur ins Gartenhaus, um Nachschub an Getränken für die Party im Haus zu holen?
Der zweite Raum der Galerie weist auf den ersten Blick eine hellere Atmosphäre auf. Er wird von drei Gemälden dominiert, zwei von Ihnen einen grösseren Zusammenhang zeigend, das dritte als Nahaufnahme konzipiert. Da ist zunächst die bei Alge schon bekannte Szene im Strassenraum: Eine junge Frau sitzt auf der Verkehrsinsel eines Kreisels, auf dem eine zweistrahlige Bogenlaterne steht. Hinter dem Kreisel eine Schallschutzmauer, hinter der wiederum noch das Dach eines Einfamilienhauses erkennbar ist. Es ist Tag, das Licht nicht unangenehm. Die Frau scheint auf etwas zu warten. Wartet sie auf die Ankunft der blauen Welle, die als Dekor auf die Schallschutzmauer gemalt wurde? Oder erinnert sie sich gerade an die Situation auf dem Golfplatz, die auf dem zweiten Gemälde geschildert wird. Ein Golfspieler steht dort in der typischen Landschaft solcher Anlagen, irritiert von der Anwesenheit der jungen Frau, die vor einem Maulwurfhügel hockt. Störung der Ordnung, sicher durch den Maulwurf, aber auch durch die neugierige Aufmerksamkeit, die die junge Frau diesem Phänomen widmet. Offensichtliches Unverständnis bei dem Mann, der sich in seinem Nutzanwendungsvollzug dieser künstlich angelegten Naturlandschaft unterbrochen sieht. Es ist die starre Haltung des Sich-nicht-Einlassen-Wollens, die dieses Gemälde zum Gegenüber der Nahaufnahme macht. Ein dunkelhäutiger Mann lehnt auf dem Geländer eines Balkons oder einer Terrasse und schaut herunter auf den Betrachter des Bildes. Rechts ist eine Hauswand mit Hausecke zu sehen, links hängt über dem Geländer ein weisses Wäschestück. Sonst nichts weiter. Dieses Gemälde frappiert durch seine Direktheit, es ist das einzige dieser Art in der Ausstellung: Der Mann schaut direkt auf uns. Diese Szene ist lapidar, aber sie packt den Betrachter. In ihr scheint körperliche Präsenz auf, Sinnlichkeit und Ansprache durch Blickkontakt. Es ist der Flüchtling aus Mauretanien, der es geschafft hat, über Gibraltar nach Spanien zu kommen. Er hat Grund zufrieden zu sein, auch wenn dies nur relativ sein kann, flüchtete er doch nicht aus Abenteuerlust. Ein Entwurzelter schaut uns an, und es ist paradox, dass er der einzig Lebendige zu sein scheint auf den Gemälden von Ingmar Alge.
Paradoxie jedoch ist allen Werken Alges zu eigen, wenn auch in wechselnder Ausdrücklichkeit. Da sind immer Szenen aus dem Alltag, nichts Besonderes, würde man sagen. Doch dann die grossen Formate. Sie überhöhen die Motive und machen sie unerträglich. Und geht Alge einmal ins kleinere Format, wirken diese Masse wie Zwangsjacken für die Motive. Und dann wirken die Bilder wie Fotografie, sind aber gemalt. Warum malt Alge also überhaupt, wenn man bedenkt (wie er selber angibt), dass die Vorlagen am Computer entstehen. In der Tat sind gemalte Bilder stets von einer höheren visuellen Präsenz als jede Fotoarbeit. Und es kommt hinzu, dass der Malerei nicht jene Abbildungstreue der gesehenen Wirklichkeit zugeschrieben wird, wie sie noch immer beim Betrachten fotografischer Werke mitschwingt. Nur so gelingt es dem Künstler, die Eindringlichkeit des Bildmotivs zu erzeugen, auch den subjektiven Bezug zu ihm her zu stellen, sowohl auf Seiten des Künstlers wie auf jener der Betrachter. Diese Eindringlichkeit ist entscheidend für den Ausdruckswert der Bilder. Aber warum sucht Alge so danach, nach der Atmosphäre des Verlorenseins, der Beziehungslosigkeit, der Isolation. Es ist sicher nicht der "Degout" der französischen Existenzialisten, dieses Leiden an der Welt des immer Gleichen, dem Alge verpflichtet ist. Der Hinweis auf Hopper ist wichtig, birgt er doch den entscheidenden Unterschied zwischen existenzialistisch und existenziell. Während die Existenzialisten die grossen moralischen und ethischen Fragen der modernen Welt zu ihrem Thema machten, fing Hopper eine Welt ein, die er sah, die er beobachtete, und an der er empatisch mit litt. Alge seinerseits leidet nicht an der Welt, die er sieht. Er will sie verstehen können, warum und wie sie ist, wie sie ist. Und auch deshalb malt er, denn das Malen erlaubt es ihm, tiefer in ein Motiv einzudringen und eine Weile mit ihm zu leben, mit ihm um zu gehen. Malerei also - jenseits aller ästhetischen Faszinosen, die sie zu bieten hat - bietet für Alge die Möglichkeit, in die Tiefe zu gehen bei seinem Suchen nach den bewegenden Dingen unseres und seines Lebens. Deshalb sehen wir bei ihm auch so viele Motive des Alltäglichen. Denn das Alltägliche birgt viele Wahrheiten, die wir gerne übersehen. Werden wir mit ihnen konfrontiert, weichen wir gerne in andere Bereiche aus. Die Gemälde von Ingmar Alge zeigen uns manche dieser Wahrheiten. Lassen wir uns von ihm mitnehmen, und schauen wir genau hin, auf die Kunst und auf uns.
© Friedemann Malsch
Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung:
Ingmar Alge, Galerie Christian Röllin, St. Gallen, 13.Februar 2007
An diesen Gemälden Alges wird immer wieder die Trostlosigkeit und Ausdruckslehre der Häuser hervorgehoben. In der Tat wirken diese Häuser merkwürdig unkörperlich, unsinnlich, fade, zugleich aber auch abweisend, in sich gekehrt und "verschlafen". Vor allem aber sind die eines: Gnadenlos alltäglich. Sie sind von einer Alltäglichkeit, die uns, wenn wir ihr wie hier in einer Kunstausstellung ausgesetzt sind, fast physische Schmerzen bereitet. Der Fluchtreflex, der Drang zum Wegschauen ist gross, und dennoch schauen wir hin, angezogen von dieser unglaublichen Leere, auf der verzweifelten Suche nach einem Stück Leben in ihnen, nach dem, was wir in Gemälden stets suchen: Drama und Schönheit. Erhabenheit, wie dies früher hiess, beinhaltet beide Elemente in all ihren Schattierungen, auch die Schönheit des Hässlichen, wie schon im 19. Jahrhundert erkannt wurde. Und auch das Drama muss nicht mit Schrecken verbunden sein wie in den griechischen Tragödien, es kann auch allein der Erzählbogen innerhalb einer noch so kitschigen Motivik sein.
Ingmar Alge zeigt uns dies alles nicht. Er zeigt uns vielmehr eine Wirklichkeit, mit und in der sehr viele von uns täglich leben. Er zeigt uns den Alltag. Dies ist auch in seinen neueren Gemälden so, auch wenn sie auf den ersten Blick erträglicher wirken. Sie wirken so, weil Menschen in ihnen auftauchen. Das tröstet sofort. Doch Vorsicht ist angezeigt: Auch in den neuen Bildserien dominiert eine Atmosphäre der Verlassenheit, der Isolation und Vereinzelung.
Christian Roellin hat mit seiner Auswahl von 12 Gemälden und mit ihrer Hängung in den Räumen seiner Galerie einen Parcours inszeniert. Der Besucher wird beim Eintreten in die Galerie mit dem Gemälde des Musik hörenden jungen Mannes empfangen, ein Selbstbildnis Alges. Den Rücken dem Betrachter zugewendet, sitzt der Mann auf dem Boden, die Arme um die Beine geschlungen, und hört einem Radio-CD-Player zu. Ob die Musik aus der Konserve kommt oder über den Äther, ist nicht auszumachen. Man denkt unwillkürlich an die Aktion von Joseph Beuys vom Anfang der 70er Jahre, als er den Bildschirm eines Fernsehers mit Filz bedeckte und anschliessend stundenlang auf dieses "Programm" starrte. Bei Alge wie bei Beuys scheint der Mensch auf besondere Weise über die Medien die Verbindung zur Welt halten zu wollen. Beuys suchte allerdings eine höhere Welt, Alge dagegen sucht die Welt hier bei uns. Das wird beim weiteren Gang durch die Galerie deutlich. Links an der langen Wand hängen vier Gemälde aus der Häuser-Serie. Drei dieser Häuser verstecken sich demonstrativ hinter hochgewachsenen Hecken aus Buchsbaum oder Lebensbaum. Gegenüber zwei Gemälde aus der "Costa Verde"-Serie des vergangenen Jahres: Nachtszenen von bedrückender Absurdität. Ein junges Mädchen in einer Übergangssituation zwischen Strasse und öffentlicher Parkanlage. Eigentlich sollte ein solches Motiv das Herz erfreuen, sind Parks doch dazu angelegt, dass sie den Menschen Freude und Erholung bieten. Hier ist der Effekt ein anderer, etwas Unheimliches liegt in der Luft. Auch das daneben hängende, kleinere Bild strahlt diese Absurdität aus: Eine Strassenlaterne beleuchtet eine kleine Strassenkreuzung, die vollkommen dysfunktional ist. Die Laterne steht in ihrer Mitte, und nur zwei Arme der Kreuzung sind tatsächlich so etwas wie gefasste Strassen, die beiden anderen Arme verlieren sich undefiniert in der Dunkelheit. Ein Memento mori für die Schwierigkeit der Menschen, sich zu begegnen? Dann das Bild "Beton", eine Übergangszone zwischen Gebäude und Aussenraum. Fast könnte man auch meinen, man wäre in einer American Bar, und wir sind keine Schelme, wenn wir hier an Edward Hopper denken. Ingmar Alge bezieht sich selbst ausdrücklich auf diesem Maler, von dem er meint, er habe bereits in den 30er und 40er Jahren eine mobile us-amerikanische Gesellschaft beschrieben, die in Europa erst jetzt Wirklichkeit zu werden beginnt. Läuft deshalb im letzten Bild des Raumes die Frau im roten Kapuzenpullover in die Dunkelheit der Nacht davon, selbst mit einer Taschenlampe bewehrt, aber vom Blitzlicht aus dem Dunkel geholt? Wohin läuft sie? Nach Hause, in den Wald, ins Nichts, oder doch nur ins Gartenhaus, um Nachschub an Getränken für die Party im Haus zu holen?
Der zweite Raum der Galerie weist auf den ersten Blick eine hellere Atmosphäre auf. Er wird von drei Gemälden dominiert, zwei von Ihnen einen grösseren Zusammenhang zeigend, das dritte als Nahaufnahme konzipiert. Da ist zunächst die bei Alge schon bekannte Szene im Strassenraum: Eine junge Frau sitzt auf der Verkehrsinsel eines Kreisels, auf dem eine zweistrahlige Bogenlaterne steht. Hinter dem Kreisel eine Schallschutzmauer, hinter der wiederum noch das Dach eines Einfamilienhauses erkennbar ist. Es ist Tag, das Licht nicht unangenehm. Die Frau scheint auf etwas zu warten. Wartet sie auf die Ankunft der blauen Welle, die als Dekor auf die Schallschutzmauer gemalt wurde? Oder erinnert sie sich gerade an die Situation auf dem Golfplatz, die auf dem zweiten Gemälde geschildert wird. Ein Golfspieler steht dort in der typischen Landschaft solcher Anlagen, irritiert von der Anwesenheit der jungen Frau, die vor einem Maulwurfhügel hockt. Störung der Ordnung, sicher durch den Maulwurf, aber auch durch die neugierige Aufmerksamkeit, die die junge Frau diesem Phänomen widmet. Offensichtliches Unverständnis bei dem Mann, der sich in seinem Nutzanwendungsvollzug dieser künstlich angelegten Naturlandschaft unterbrochen sieht. Es ist die starre Haltung des Sich-nicht-Einlassen-Wollens, die dieses Gemälde zum Gegenüber der Nahaufnahme macht. Ein dunkelhäutiger Mann lehnt auf dem Geländer eines Balkons oder einer Terrasse und schaut herunter auf den Betrachter des Bildes. Rechts ist eine Hauswand mit Hausecke zu sehen, links hängt über dem Geländer ein weisses Wäschestück. Sonst nichts weiter. Dieses Gemälde frappiert durch seine Direktheit, es ist das einzige dieser Art in der Ausstellung: Der Mann schaut direkt auf uns. Diese Szene ist lapidar, aber sie packt den Betrachter. In ihr scheint körperliche Präsenz auf, Sinnlichkeit und Ansprache durch Blickkontakt. Es ist der Flüchtling aus Mauretanien, der es geschafft hat, über Gibraltar nach Spanien zu kommen. Er hat Grund zufrieden zu sein, auch wenn dies nur relativ sein kann, flüchtete er doch nicht aus Abenteuerlust. Ein Entwurzelter schaut uns an, und es ist paradox, dass er der einzig Lebendige zu sein scheint auf den Gemälden von Ingmar Alge.
Paradoxie jedoch ist allen Werken Alges zu eigen, wenn auch in wechselnder Ausdrücklichkeit. Da sind immer Szenen aus dem Alltag, nichts Besonderes, würde man sagen. Doch dann die grossen Formate. Sie überhöhen die Motive und machen sie unerträglich. Und geht Alge einmal ins kleinere Format, wirken diese Masse wie Zwangsjacken für die Motive. Und dann wirken die Bilder wie Fotografie, sind aber gemalt. Warum malt Alge also überhaupt, wenn man bedenkt (wie er selber angibt), dass die Vorlagen am Computer entstehen. In der Tat sind gemalte Bilder stets von einer höheren visuellen Präsenz als jede Fotoarbeit. Und es kommt hinzu, dass der Malerei nicht jene Abbildungstreue der gesehenen Wirklichkeit zugeschrieben wird, wie sie noch immer beim Betrachten fotografischer Werke mitschwingt. Nur so gelingt es dem Künstler, die Eindringlichkeit des Bildmotivs zu erzeugen, auch den subjektiven Bezug zu ihm her zu stellen, sowohl auf Seiten des Künstlers wie auf jener der Betrachter. Diese Eindringlichkeit ist entscheidend für den Ausdruckswert der Bilder. Aber warum sucht Alge so danach, nach der Atmosphäre des Verlorenseins, der Beziehungslosigkeit, der Isolation. Es ist sicher nicht der "Degout" der französischen Existenzialisten, dieses Leiden an der Welt des immer Gleichen, dem Alge verpflichtet ist. Der Hinweis auf Hopper ist wichtig, birgt er doch den entscheidenden Unterschied zwischen existenzialistisch und existenziell. Während die Existenzialisten die grossen moralischen und ethischen Fragen der modernen Welt zu ihrem Thema machten, fing Hopper eine Welt ein, die er sah, die er beobachtete, und an der er empatisch mit litt. Alge seinerseits leidet nicht an der Welt, die er sieht. Er will sie verstehen können, warum und wie sie ist, wie sie ist. Und auch deshalb malt er, denn das Malen erlaubt es ihm, tiefer in ein Motiv einzudringen und eine Weile mit ihm zu leben, mit ihm um zu gehen. Malerei also - jenseits aller ästhetischen Faszinosen, die sie zu bieten hat - bietet für Alge die Möglichkeit, in die Tiefe zu gehen bei seinem Suchen nach den bewegenden Dingen unseres und seines Lebens. Deshalb sehen wir bei ihm auch so viele Motive des Alltäglichen. Denn das Alltägliche birgt viele Wahrheiten, die wir gerne übersehen. Werden wir mit ihnen konfrontiert, weichen wir gerne in andere Bereiche aus. Die Gemälde von Ingmar Alge zeigen uns manche dieser Wahrheiten. Lassen wir uns von ihm mitnehmen, und schauen wir genau hin, auf die Kunst und auf uns.
© Friedemann Malsch
Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung:
Ingmar Alge, Galerie Christian Röllin, St. Gallen, 13.Februar 2007