Silvia Höller

Entleerte Hüllen
Die Häuser von Ingmar Alge

„Ein Haus ist ein künstlicher Bauch, etwa ein Magen und Darm, in den man schluckt, und eine Gebärmutter, aus der man stößt, um das Licht der Welt zu erblicken.“ 1
Vilém Flusser


Mit einem Spaziergang durch seinen Wohnort Dornbirn beginnt für Ingmar Alge die malerische Hinterfragung des Rückgrates unserer Sesshaftigkeit. Das klassische Einfamilienhaus weckt sein Interesse. „Wie gesagt, die ersten drei Häuser sind absolut nicht in der Absicht entstanden, gemalte ,Kunst‘ zu sein, sondern ich versuchte mit ihnen eher zu begreifen, was ich sah, aber nicht verstand, mir aber interessant oder zumindest bedenkenswert schien.“2  Diese Reflexion über das „Prinzip Eigenheim“3 lässt ihn in der Folge nicht mehr los. Das Haus wird zu seinem zentralen Motiv. Wie besessen widmet er sich über fünf Jahre lang vorwiegend diesem kleinbürgerlichen Lebenstraum. Es handelt sich nicht um architektonisch interessante Häuser. Im Gegenteil. Es sind Häuser, die einer standardisierten „Bausparkassenästhetik“4 folgen: Satteldach, Erdgeschoß, ein Stockwerk, Garage, kleiner Garten. Häuser, wie sie millionenfach am Rande von urbanen Zentren und in ländlichen Gegenden besonders in Deutschland, Österreich oder der Schweiz seit den Nachkriegsjahren bis in die 1980er Jahre entstanden sind. Sie repräsentieren den Traum von den eigenen vier Wänden, der durch Fleiß, Sparsamkeit und Wohnbauförderung erreicht werden kann. Schaffe, schaffe, Hüsle baue … ist gerade in Vorarlberg eine weit verbreitete Redensart. Was geschaffen wird, ist die Illusion eines individuellen Heims. Die Individualität findet dabei nur im Detail Platz. Denn in ihrer Umsetzung zeugen diese Häuser vom gesellschaftlichen Zwang zur Konformität, der vom Wunsch nach sozialer Homogenität, aber auch von behördlichen Standardisierungsauflagen getragen wird. Ingmar Alge untersucht diese genormte Monotonie der Häuslichkeit und versucht hinter die vermeintlich heimelige Idylle zu blicken. Die Bewohner werden ausgeblendet. Genauso wie ihre Spuren. Mit kühler Distanz konzentriert sich Alge auf das äußere Erscheinungsbild – auf die entleerten Hüllen.


Das Haus als Symbol
Im Allgemeinverständnis steht das Haus für Schutz, Sicherheit und Geborgenheit. Es ist weit mehr als eine bauliche Hülle, die vor Naturgewalten schützt. Die menschliche Entwicklung lässt sich anhand ihrer Behausungen ablesen: Höhlen, Pfahlbauten, Steinhäuser bis hin zu ausgefeilten Repräsentationsbauten im sakralen wie profanen Bereich. Das Haus ist ein archaisches Symbol, das unterschiedlichste Bedeutungen impliziert. Es ist ein zentrales kulturgeschichtliches Phänomen, das in nahezu allen Kulturen eine wesentliche Rolle einnimmt. Jede sesshafte Zivilisation baute ihren Göttern oder ihrer Gottheit ein besonderes Haus. Im frühchristlichen Sinne verstand man unter dem Haus Gottes zunächst die Glaubensgemeinschaft. Erst nach der offiziellen Anerkennung des Christentums setzte sich der Begriff Kirche durch, der sowohl die Gläubigen, die kirchenrechtliche Institution als auch das sakrale Bauwerk meint.
In patriarchal strukturierten Gesellschaften wird das Haus generell der Frau zugeschrieben, die die Schlüsselgewalt innehat. Mit dem Haus assoziieren wir auch Familie. Diese wiederum, vorausgesetzt wir hatten eine glückliche Kindheit, führt uns zurück zur wohligen Geborgenheit, zur mütterlichen Fürsorge und letztlich zum familiären Abnabelungsprozess. Somit ist das Haus auch ein Merkmal für Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Erfolg. „Der Bau eines Hauses steht für den Aufbau einer gesammelten Lebensexistenz. Wer kein Dach über den Kopf hat … bleibt außerhalb aller sozialen Türen. Obdachlosigkeit ist degradierender als Arbeitslosigkeit.“5
Mit dem Haus verbinden wir einen Ort des persönlichen Rückzuges, der emotional besetzt ist und im rechtsstaatlichen Sinne eine klare Abgrenzung zwischen Außenwelt und Privatsphäre darstellt. Nach dem französischen Philosophen Gaston Bachelard ist das Haus ein Kosmos von existenzieller Bedeutung. „Es hält den Menschen aufrecht, durch alle Gewitter des Himmels und des Lebens hindurch. Es ist Körper und Seele. Es ist die erste Welt des menschlichen Seins.“6  In seiner Poetik des Raumes spricht Bachelard davon, dass das Haus und vor allem seine Räume eng mit unserem Unterbewusstsein verbunden sind, intuitive Gedanken und emotionale Bilder hervorrufen, die in unseren Erinnerungen gespeichert sind. Vom Keller bis zum Dachboden erstellt er eine Topographie der Orte der Seele, in denen die Bilder der Erinnerung als räumlich „verdichtete Zeit“7 eingelagert sind.

In der Psychologie gilt das Haus als Metapher für den schützenden Mutterleib, ist Sinnbild für den eigenen Körper und wird als Verlängerung der Seele (C. G. Jung) interpretiert. Bei einer vielseitigen psychologischen Betrachtung dieses Motivs treten bald die Schattenseiten hervor. Ein Haus kann Kerker, Angstraum oder Grab sein. Für den österreichischen Psychoanalytiker Otto Rank steht nicht die Behausung, sondern das Grab am Beginn der zivilisatorischen Entwicklung zur Architektur. Rank befasst sich in seiner Schrift Kunst und Künstler mit dem Ursprung künstlerischen Schaffens und beleuchtet dabei ausführlich die Haussymbolik. Das Haus ist für ihn Mutter-Hülle und Grab zugleich, „… ein vom Menschen selbst geschaffener Ersatz. Ersatz aber nicht nur im Sinne der Wiederherstellung des Unerreichbaren …, sondern auch im Sinne der selbstschöpferischen Tendenz nach Unabhängigkeit von der mütterlichen Bindung, ja geradezu der eigenwilligen Überwindung derselben.“8 Das Grab zeugt nicht unbedingt vom Wunsch der Rückkehr in den Uterus, vielmehr repräsentiert es den Glauben an ein Leben nach dem Tod, wofür ein Aufenthaltsort geschaffen wird. „Dieses erste Haus, der Grabbau, wird so von selbst zu einer Hülle der Seele, zu einem menschlichen Körper, in dem die Totenseele nach dem Verlassen der Erde haust.“9 Im Dualismus Uterus und Grab, Geburt und Tod, der sich, nach Rank, im Haus manifestiert, ist für ihn jede schöpferische Kraft, ja die Kunst selbst begründet.
Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud hingegen zeigt in seiner Studie über Das Unheimliche u. a. das enge Beieinanderliegen der Begriffe heimlich (heimelig) und unheimlich auf. Er kommt zum Schluss, dass der Kern des Unheimlichen im einst Vertrauten, im Heimlichen liegt, das verdrängt wurde. „Dies Unheimliche ist nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist.“10 Wird diese Theorie auf das Haus bezogen, so liegt dem trauten Heim diese Doppeldeutigkeit zugrunde. Das Bekannte, das zum Unbekannten, zur Bedrohung mutiert. Genau dafür ist das Haus in Kunst, Literatur und Film vielfach ein beliebtes Motiv.


Das Haus als Topos in der Kunst
In der Kunst ist das Haus ein zentraler ikonografischer Topos, dessen lange Tradition letztlich als Kulisse beginnt. Aus dem Anspruch der Überhöhung sakraler Bildinhalte entstehen im Mittelalter idealisierte Architekturen und Fantasiestädte als Hintergrund. Bereits vor der Errungenschaft der Zentralperspektive im frühen 15. Jahrhundert kristallisiert sich in der italienischen Malerei die Tendenz heraus, wirklichkeitsnahe Räume zu visualisieren. „Erzählraum wird durch Räume und durch Beziehungen zwischen diesen konstruiert – durch Beziehungen zwischen Innenräumen, zwischen Innenraum und Außenraum und zwischen Bildraum und Betrachterraum.“11 Dadurch erhält der gebaute Raum eine neue Dimension als Bedeutungsträger und Objekt der Identifikation. Sakrale Szenen werden in das architektonische Ambiente der eigenen Zeit transferiert. Vor allem die Niederländer des frühen 15. Jahrhunderts, im Besonderen Jan van Eyck, widmen sich mit Akribie der Schilderung der Interieurs und liefern auf diese Weise wirklichkeitsnahe „Begleiterzählungen“12. Aus den realistischen Ansprüchen entwickelt sich schließlich im 16. Jahrhundert die detailgetreue Vedutenmalerei als eigenständiges Genre der Kunstgeschichte heraus. Sie erreichte im 18. Jahrhundert in den Werken von Canaletto höchste Virtuosität und verliert ihre dokumentarische Funktion erst durch das Aufkommen der Fotografie im 19. Jahrhundert.
In der Malerei der Moderne wird nicht mehr das reale Abbild gesucht. Die Gesetze der Zentralperspektive werden spätestens durch Paul Cézanne außer Kraft gesetzt, um neue Wahrnehmungs- und Beziehungsebenen zwischen Raum, Figur und Gegenstand auszuloten. Im Kubismus wird das Haus in einzelne Elemente zerlegt und als geometrisches Formenspiel neu zusammengefügt. Der metaphorische Charakter des Motivs steht nun vermehrt im Vordergrund. So nutzt die Pittura Metafisica stilisierte Gebäude, um eine entfremdete Atmosphäre zu schaffen. Die bauliche Hülle selbst wird zum Ort der künstlerischen Verwirklichung, zum Weltbild und Gesamtkunstwerk, wie der wuchernde Merzbau von Kurt Schwitters zeigt, der in der ersten Form von 1920 bis 1936 in seiner Wohnung in Hannover entstand. Im Zuge der gesellschaftlichen und urbanistischen Veränderungen führt die Reflexion über den Wohnraum im sozialen, politischen und ästhetischen Kontext zu wichtigen Fragestellungen, die vor allem von avantgardistischen Bewegungen wie dem Bauhaus aufgegriffen werden.
Seit der Nachkriegszeit bricht die Hausthematik regelrecht auf und zersplittert in all ihre unterschiedlichsten Bedeutungs- und Assoziationsebenen. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler setzen sich intensiv mit dem Haus auseinander und bedienen sich seiner als vielfältige Metapher. Für Louise Bourgeois wird das Haus in vielerlei Hinsicht ein nahezu lebensbegleitendes Gleichnis. Von ihren frühen Zeichnungen (Femmes Maison), in denen weibliche Oberkörper in Häuser verschwinden, über ihre skulpturalen Arbeiten der Nester, wo kugelige Hohlformen assoziativ an weibliche Organe erinnern, bis hin zu ihren Zellen (Cells) im Alterswerk. Die Hausform wird für sie zum Synonym des eigenen Körpers, der Familie oder patriarchaler Machtstrukturen, oszilliert zwischen Geborgenheit und Gefängnis, Labyrinth und Freiheit. Bernd und Hilla Becher hingegen gelten durch ihre emotionslosen, dokumentarischen Typologien von Fachwerkhäusern und später Zechanlagen als Bahnbrecher. Mit ihren Fotografien beginnt eine neue sachliche Darstellung des Hauses, die bis in die Gegenwart nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Es gibt kaum eine größere Veranstaltung im internationalen Kunstbetrieb, auf der Konnotationen des Topos „Haus“ nicht künstlerisch thematisiert würden. Eines der bislang aufsehenerregendsten Projekte war die Arbeit Totes Haus u r von Gregor Schneider im deutschen Pavillon der Biennale in Venedig, für die er 2001 den Goldenen Löwen erhielt. Er griff dabei sein Haus u r in Rheydt auf. Das ehemalige Elternhaus, das er mit aufwendigen Ein- und Umbaumaßnahmen (1985–2007) in ein Horrorkabinett verwandelte. Ein alptraumhaftes Labyrinth von verschachtelten, zum Teil mechanisch bewegten Räumen, die Fantasien menschlicher Abgründe und das Unheimliche mit allen Sinnen erfahrbar machten.


Die Häuser von Ingmar Alge
Im Zeitraum von 1999 bis 2005 malt Ingmar Alge fast ausschließlich Einfamilienhäuser. Insgesamt entstehen über siebzig Tafelbilder. Er arbeitet zunächst nach selbst gefertigten, fotografischen Vorlagen, die er in leicht veränderter Form auf die Leinwand bannt. Wobei Anonymisierung und Entindividualisierung entscheidende Faktoren sind. Sämtliches Beiwerk, das auf Bewohner hinweisen könnte, wird ausgespart. Alges malerische Recherche beginnt in kleineren Formaten mit Studiencharakter. Die Ausführung wird zunehmend realistisch kompakter und zur nüchternen Schilderung des Bildgegenstandes. Schon bald zieht er das Großformat vor.
Es sind Häuser, die jeder von uns kennt, die wir im Alltag gar nicht mehr wahrnehmen. Aber was macht ihre Anziehungskraft aus? Wie erklärt sich unser Unbehagen?
Wie Denkmäler einer spießbürgerlichen Lebensexistenz sind diese Häuser jeder romantischen Überhöhung von Geborgenheit beraubt. Gefühle der Enge, der Abschottung und des Festgelegtseins materialisieren sich in diesen Gebäuden. Wir trauen ihren harmlosen Fassaden nicht. Die Häuser wirken verlassen und trotzdem nicht vernachlässigt. Als würden ihre Mauern dunkle Geheimnisse hüten. Man spürt, dass sie bewohnt sind, findet aber keine Anhaltspunkte dafür. Die Jalousien sind oft geschlossen. Vielfach sind nur nackte Wände ohne Fenster oder Türen zu sehen. Alge spielt mit der Ambivalenz des Vertrauten. Der Blick auf diese gewöhnlichen Häuser wird isoliert und aus dem alltäglichen Kontext herausgeschält. Dadurch schafft er Irritationen, die eine Interpretierbarkeit in unterschiedliche Richtungen öffnen.
Ausgangspunkt von Alges Motivwahl sind die Häuser seiner unmittelbaren Umgebung. Auch wenn diese Bauwerke keine ortspezifischen Charakteristiken aufweisen, so zeigen sie doch eine Auseinandersetzung mit der Region. Der Begriff Heim liegt sprachlich der Heimat sehr nahe. Selbstverständlich kann das Heimatgefühl jenseits vom geografischen Raum verankert sein. Dennoch verbinden wir eine gefühlsmäßige Verwurzelung gemeinhin mit dem Elternhaus, als Ort der Familie. In diesem Zusammenhang ist es wohl nicht nebensächlich, dass Ingmar Alge aus einer erfolgreichen Bauunternehmerfamilie stammt, die u. a. auch im Segment des Einfamilienbaus tätig ist. Das Thema Haus ist somit eng an seine eigene Familiengeschichte gebunden, begleitet ihn schon von Kindheit an. Die Reflexionen zum Thema „Haus“ werden für Alge eine jahrelange Suche, die letztlich ohne Antwort bleibt. Denn ein Haus ist vieles. „Ein Haus kann als ein Raum der und für Phantasien dienen, ein Raum sowohl innerhalb als auch außerhalb der Psyche, als ob es in der Lage wäre, das verlorene originale Objekt zu sein, in der Lage, uns zu geben, was wir wollen – den Raum der Ganzheit und Vollständigkeit der Perfektion, der erfüllten Sehnsucht. Das Heim ist in dieser Verwendung mehr als ein Ort, und sogar mehr als eine Ideologie: Es ist der Grund der Möglichkeiten, ein Ort des Anfangs und des Endes.“ 13

© Silvia Höller

In: Ingmar Alge, Galerie der Stadt Backnang
Verlag Hatje Cantz, Ostfildern 2013