Ulrich Clewing
Als erstes fällt auf,
dass da nichts auffällt. Der Himmel ist blau, die Auffahrt breit, der Vorgarten gepflegt. Was man so darunter versteht: vorne viel Rasen, hinten ein kleines Blumenbeet, an der Seite der Eingang. Das Übliche halt, eventuell etwas weniger als das, aber dafür ist alles sauber gefegt. Ansonsten: nichts Ungewöhnliches. Das Haus sieht aus wie Tausende anderer Häuser in tausend anderen Ortschaften mit Namen, die man schnell wieder vergisst, außer man wohnt dort.Nichts Besonderes, wirklich, abgesehen vielleicht von dem Umstand, dass die beiden Garagentore immer geschlossen sind. Und die Jalousien der drei Fenster darüber auch. Und dann wäre da noch diese eigenartige Asymmetrie. Etwas, das irgendwie aus dem Lot geraten scheint, doch das bemerkt man erst, wenn man länger hinschaut.
Ingmar Alge hat dieses Haus in Höchst bei Sankt Margarethen im Vorarlberg schon immer fasziniert. Wobei die Adresse eigentlich nichts zur Sache tut. Dieses Haus könnte überall stehen. Es ist austauschbar und einzigartig zugleich, das ist ja gerade der Reiz daran. Unzählige Male ist Ingmar Alge an diesem Haus vorbei gefahren, hat es zu jeder Jahreszeit morgens, mittags, abends fotografiert. Anfangs war ihm das ausgesprochen unangenehm. Er kam sich vor wie ein Eindringling - ein Gefühl, das auch später nie verschwand, nachdem er - immer aus dem Auto heraus - schon viele Fotos von dem Haus gemacht hatte.
Auf einem der Bilder, die er nach diesen Besuchen regelmäßig malte, hat sich etwas davon erhalten: Man erkennt die Reflexion der Sonne auf der Glasscheibe, durch die hindurch Alge fotografierte, und dieser Widerschein schiebt sich nun wie ein feiner, hell leuchtender Schleier vor das Motiv. Ein Detail nur, das überdies auch nur auf diesem einen Werk vorkommt. Andererseits ist dieser Schleier in einem übertragenen Sinn schon bezeichnend für die Kunst von Ingmar Alge, denn es ist ein Merkmal aller seiner Gemälde: Da ist etwas, das über diesen Bildern liegt, etwas Unsagbares, Undefinierbares, eine Mischung aus großer Distanz und ebenso großer Nähe, womöglich nur eine Empfindung - oder auch nur die Erinnerung an eine Empfindung.
Nur einmal in dieser ganzen Zeit, als Alge schon oft zum Haus “Höchst Nr. 1” gefahren war, hat er dort jemanden angetroffen. Das eine Garagentor war geöffnet und in der Garage saß ein alter Mann auf einem Stuhl und trank aus einer Flasche Bier. Das andere Garagentor und die Fenster waren wie immer verschlossen. Trotz dieser Begegnung, die ja an sich keine war, blieb die Fremdheit, die Alge inzwischen paradoxerweise so vertraut erschien.
Der Eindruck fremder Vertrautheit oder vertrauter Fremde geht von vielen Bildern Ingmar Alges aus. Seine bevorzugten Motive, die Häuser, die er malt, gehören zu dem Teil alltäglicher Wahrnehmung, den man normalerweise allzu rasch und allzu gern verdrängt. Die Allerwelts-Architektur in den Vorstädten und verstädterten Dörfern im Vorarlberg und anderswo ist so gleichförmig, dass man ihr nur selten Beachtung schenkt. Auf der anderen Seite ist sie in ihrer Unausweichlichkeit eine der kollektiven Erfahrungen, die sich ins Gedächtnis eines jeden einzelnen eingeschrieben hat. Dieser Widerspruch zwischen Banalität und tiefer Prägung erzeugt eine Spannung, die Alges Werken fast unmerklich eine Art Meta-Ebene verleiht.
Der französische Schriftsteller Georges Perec hat dieser Diskrepanz von Aufmerksamkeit und Präsenz einmal ein ganzes Buch gewidmet. Es ist ein Buch über den Alltag, seine Phänomene und Absonderlichkeiten, voll von mehr oder weniger unwichtigen Beobachtungen, vor allem aber ist es ein Buch über die Kraft der Erinnerung, und darüber was diese Kraft vermag: nämlich nicht nur unspektakulär das Bild einer Zeit zu zeichnen, sondern auch Gemeinsamkeiten zu schaffen, wo sonst wenig Gemeinsamkeiten zu sein scheinen. In “Je me souviens de” (auf deutsch 1978 unter dem Titel “Ich erinnere mich” erschienen) beschreibt Perec in vielen hundert, jeweils nur einen Satz langen Apercus alles auch nur entfernt denkbare: vom Aussehen der Zahnpastatube in seinem Badezimmer bis zu kurzen Szenen aus Kinofilmen, die er irgendwann gesehen hat, von Straßengeräuschen, die in seine Wohnung drangen, bis zum Wortlaut von Werbesprüchen für längst vom Markt verschwundene Produkte. Das Entscheidende dabei war, dass Perec wie bei einem Puzzle Eindrücke aneinander reihte, die er mit vielen anderen teilte, ohne dass man sich dessen bewusst gewesen wäre.
So ist es auch mit den Bildern von Ingmar Alge. Sie weisen - erstens - den Betrachter auf etwas hin, das er zwar kennt, dem er aber kaum Bedeutung beimisst. Und zweitens vollzieht sich in demselben Moment, in dem sie das tun, zwangsläufig ein Bedeutungswandel. Wenn man so will, fungiert die Kunst hier als Relevanz-Katalysator: Plötzlich fängt man an, sich für Dinge zu interessieren, die einem zuvor völlig gleichgültig waren. Und man fragt sich, was es mit den Häusern und den Wohnwagen, die Alge auch malt, denn bloß auf sich haben mag.
Um zu verstehen, wie diese Bilder beschaffen sind, muss man wahrscheinlich erst einmal festhalten, was sie alles nicht sind. Es ist zum Beispiel nicht Alges Absicht, eine Art formaler Enzyklopädie aufzustellen, eine Typologie des banalen Wohnens, wie es zum Beispiel die Fotografen Bernd und Hilla Becher mit ihren Fachwerkhaus-Serien versucht haben. Auch wenn sich bei Alge manche Motive wiederholen, hat er mit dem Seriellen an sich nicht viel zu schaffen. Es ist immer das einzelne, für sich allein stehende Bild, das ihn interessiert.
Genauso wenig sind Alges Bilder Bestandteile einer verklausulierten, quasi-literarischen Form der Bild-Erzählung: sie zeigen keine Schauplätze eines irgendwie gearteten Geschehens, sei es konkret, vage oder imaginiert, dem man als Betrachter auf die Schliche kommen soll. Und schon gar nicht verfolgt Alge das Ziel, dass der Betrachter vom einfallslosen Äußeren eines Hauses reflexhafte Rückschlüsse auf seine Bewohner zieht. Alge geht es sicher nicht darum, vermeintliche Spießer in ihrer Spießbürgerlichkeit zu entlarven oder sonstwie der Lächerlichkeit preiszugeben. Im Gegenteil: Er begegnet seinen Bildmotiven mit großem Respekt.
In mancher Hinsicht erinnern diese Bilder an die experimentelle Frühzeit der Konzept-Kunst. Im gedanklichen Ansatz vielleicht am ähnlichsten ist die Arbeit “Homes for America”, mit der der Künstler, Architekt und spätere Documenta-Dauergast Dan Graham 1967 an die Öffentlichkeit trat. Grahams “Homes” bestehen aus einer Reihe von Fotografien, die der Künstler in einer der typischen Ostküsten-Vorstädte aufgenommen hat. Darin tauchen im Großen und Ganzen immer wieder die gleichen Fassaden auf - beim ersten Hinsehen eine einzige langanhaltende Klage über die Langeweile und die ästhetische Unterentwicklung in den nordamerikanischen Suburbs.
Doch wenn man dann die von Graham dazu gestellten Texte und Tabellen liest, kommt man schnell dahinter, dass die Botschaft wesentlich komplexer ist. In den “Homes for America” hat Graham regelrecht wissenschaftlich analysiert, was die Industrie an Häusern produziert und wie abhängig der Käufer eines “Home” von der industriellen Norm ist, wie wenig gestalterischen Spielraum diese Normierung dem einzelnen tatsächlich lässt. Bei Graham ist es demnach genau anders als man vermuten würde: Die Kritik orientiert sich an den Gegebenheiten und an denen, die diese Gegebenheiten schaffen - und eben nicht an den Menschen, die sich in ihren vier Wänden einrichten, so gut es nun mal geht.
Betrachtet man Ingmar Alges künstlerischen Werdegang, so erscheint ein Vergleich mit der Konzept-Kunst durchaus plausibel. Alge, der bereits mit siebzehn an der Kunstakademie in Wien zu studieren begann, befasst sich nämlich erst seit relativ kurzer Zeit mit der Malerei. Davor initiierte er soziale und gesellschaftspolitische Projekte, die sich oft mehr an der Soziologie orientierten als an der traditionellen Vorstellung von Kunst. Um das besser zu verstehen, ist es notwendig, einmal zu untersuchen, wie es eigentlich um den Realismus dieser Bilder steht.
Dazu ist es hilfreich, sich vor Augen zu halten, auf welche Weise sie hergestellt werden. Oberflächlich betrachtet sind sie realistisch. Man kann sie sogar fotorealistisch nennen: Sie werden, das wurde bereits erwähnt, nach fotografischen Vorlagen gemalt, die Ingmar Alge selbst produziert. Diese Fotos sind freilich nur der Ausgangspunkt und erste Schritt. Denn Alge überspielt sie danach auf seinen Computer, wo er sie mal stärker, mal weniger stark manipuliert: Manche lässt er so, wie sie sind, andere werden komplett neu komponiert und kombiniert, so dass am Schluss eine Situation zu sehen ist, die zwar natürlich wirkt, die es so aber in der Natur nicht gibt und nie gegeben hat. Dabei kommt es vor, dass Alge auf Fotos zurückgreift, die bereits einige Jahre alt sind und auch schon zu Gemälden weiterverarbeitet wurden.
Ein Beispiel dafür ist das Gemälde “Le Conquet Nr. 2” aus dem Jahr 2001. Das kleine schmucklose Haus mit dem Satteldach und den zwei geöffneten Dachfenstern taucht auf dem zwei Jahre später entstandenen Gemälde “F 1” noch einmal auf, diesmal allerdings in leicht veränderter Form: An der Schmalseite erscheint dort, wo im ersten Bild nur die Eingangstüre ist, nun auch noch ein Garagentor. Außerdem steht das selbe Haus im zweiten Bild gleich noch einmal da, und zwar um 180 Grad gedreht, so dass man nur seine Giebelseite sieht. Diese freie Verfügbarkeit der Formen bei gleichbleibend realistischem Gesamteindruck ist ein typisches Merkmal von Kunst, die während ihrer Herstellung digital modifiziert worden ist. Alges Bilder sind eben nicht naturgetreue Abbilder einer in der Wirklichkeit vorkommenden Ansicht, sondern Konstellationen und Situationen präsentieren, die komplett artifiziell sind.
Die am Computer bearbeiteten Fotodateien sind für Alge die Vorabskizzen - jene Bilder, die er vom Medium des größtmöglichen Scheins von Authentizität, der Fotografie, in das Medium der größtmöglichen künstlerisch-individuellen Freiheit übersetzt. Wenn man einmal genau hinsieht, dann merkt man, dass Alges Gemälde trotz der spröden Sujets malerisch hochgradig kulinarisch und delikat sind. Häufig verändert der Künstler die Vorlagen nochmal, fügt Dinge hinzu oder übermalt sie. Darüber hinaus erzeugt auch die Behandlung der Oberflächen, die aus unzähligen Schichten der verschiedensten fein lasierten Farbtöne bestehen, oft die Illusion einer räumlichen Tiefe, welche sich nicht durch die Gesetze der Perspektive erklären lässt. So entsteht eine Wirklichkeit neben der Wirklichkeit, und die bezieht sich nur auf das Bild selber: Aus den Flächen werden Farbräume, die zusammen genommen natürlich ein wiedererkennbares, sprich: realistisches Motiv ergeben, für sich einzeln betrachtet jedoch eine zweite Realitätsebene schaffen, der man sich noch etwas ausführlicher widmen sollte. Diese zweite Realitätsebene ist nicht realistisch in dem Sinn, das man über ihre Beschaffenheit auf Anhieb eine eindeutige Aussage treffen könnte. Sie ist eher ein Träger von Stimmungen und Atmosphären, und dürfte deshalb auch auf jeden einzelnen Betrachter recht unterschiedlich wirken.
Der Begriff Realismus kann in Bezug auf die Gemälde von Ingmar Alge also nur mit Einschränkungen angewendet werden. Dies trifft um so mehr zu, als auch die Kompositionen in den Bildern von Ingmar Alge alles andere als zufällig zustanden kommen. Wenn man einmal die Bildausschnitte, die Größenverhältnisse und Beziehungen von Formen und Farben untereinander betrachtet, so merkt man bald, wie elaboriert künstlich, wie im positiven Sinn durchgerechnet, kalkuliert und gebaut diese Gemälde sind.
Das freilich sind sie nicht um ihrer selbst willen. Wenn man mit Ingmar Alge über seine Häuser redet, dann kann es vorkommen, dass er von ihrer “Anatomie” spricht. Der Ausdruck, der normalerweise auf lebendige Körper angewendet wird, passt in dem Fall ganz hervorragend. Oft wählt Alge Blickpunkte, von denen aus die Häuser voluminöser, körperhafter erscheinen als sie tatsächlich sein können. Manchmal wirken die Hauswände dann fast ausgebeult, wie wenn sie durch eine aus dem Inneren heraus nach Außen drängende Kraft gespannt wären. Manchmal auch erscheinen auch die Fassaden für kurze Augenblicke beinahe wie Gesichter in den unterschiedlichsten Physiognomien.
Das sind Eigenschaften, die auf alle Gemälde von Ingmar Alge zutreffen, auch auf die Wohnwagenbilder. Auch sie gehen auf persönliche Erlebnisse des Künstlers zurück: Bei einem Urlaub in der Bretagne sah Alge schon aus der Ferne die Ansammlungen von Wohnmobilen am Strand, die sich wie große seltsame Tiere einer Herde im losen Verbund zusammengefunden hatten. Auch hier sind keine Menschen zu sehen, aber sie sind doch ständig präsent. Ähnlich wie bei den Häusern fragt man sich auch vor diesen Bildern, was geschieht dort gerade? Welche Leben werden da gelebt, welche Träume geträumt, Erwartungen geweckt, Hoffnungen geschürt und Enttäuschungen bereitet? Und während man sich solche Fragen stellt, merkt man, wie man auf einmal in Zwiesprache mit sich tritt und - dergestalt auf sich selbst zurückgeworfen - für die Antworten plötzlich alle Möglichkeiten hat. Alges Bilder sind die Aufhänger, die Initialzündungen für eine Reise, die einen zu sich selbst führt, zur eigenen Erinnerung, zu den eigenen Vorstellungen und Fantasien. Sie sind wie ein Spiegel der Seele, wenn man hineinschaut, sieht man das, was hinter einem liegt. Vor allem aber sieht man sich selbst.
© Ulrich Clewing, geboren 1962, lebt in Berlin
In: Ingmar Alge, Malerei 2001 02 03,
Neue Galerie Dachau, Dachau 2004